In Fortsetzung seiner Überlegungen zur Darstellung der Spuren des Lebendigen interessiert sich Michael Günburger in jüngster Zeit für das Ei, das ein Potenzial symbolisiert, da es künftiges Leben birgt, und das abwesende Tier verbildlicht. Der Künstler entwickelt sein Thema in drei verschiedenen, doch gleichzeitig entstandenen Werkgruppen. Die erste Gruppe, die einer langjährigen Praxis des Künstlers folgt, umfasst eine Reihe von Beobachtungszeichnungen, die Eier darstellen. Diese sind mit feiner Tusche gezeichnet und weisen Hinzufügungen von Acryl, Schellack und Eitempera auf. Der Künstler sucht hier seine Arbeit mittels der Zeichnung zu erhellen und sein neues Motiv sowie dessen visuelle, formale und materielle Qualitäten zu verstehen. Der Träger einer dieser Zeichnungen (Embody the Tool to Make It Work Well) besteht aus einem doppelten Blatt, das Spiele mit der Transparenz ermöglicht. Im Papier – wie auch in der Zeichnung (A Clear Move Will Stop the Events) – gefundene Punkte werden miteinander durch Linien verbunden gemäss einem Prinzip, das zuvor für Leberflecken auf einem Körper (Glückliche Fügung, 2008) Anwendung fand, um verborgene Linien aufzudecken. Eine Abfolge von Weisstönen und Fliesseffekten – als ob sich das Eiweiss ausgebreitet hätte – enthüllt auf subtile Weise das sensible Register dieses neuen Themas.
Eine zweite Werkgruppe (It Becomes Clear Once It’s Loved, Read It Twice and Utter a Loud Oh, Read It Twice with Tears in Your Eyes, Thoroughly Embrace the Signs besteht aus Zeichnungen, die mit ovalförmigen Eiern unterschiedlicher Grösse (Wachtel, Huhn und Strauss) angefertigt sind. Sie erkunden die Spuren, die dieser organische Körper in Art einer Schrift hinterlässt, in der Art von Matthew Barneys Serie Drawing Restraint (begonnen 1987), in der dieser die Anzeichen für unter physischem Zwang ausgeführte Handlungen sammelt. Mit weitaus weniger Anstrengung und Aufwand lässt Michael Günzburger die mit Farbe bedeckte Eierschale über ein Blatt Papier rollen und erzeugt so ein unregelmässiges Muster, das durch die asymmetrische Form und den flüssigen Inhalt des Eis in ständige Schwingung versetzt wird. Dabei setzt er das Ei immer wieder neu in Bewegung, damit es seinen Lauf fortführt, bis dem Künstler die Komposition vollendet erscheint. Während seiner Experimente lernt er, in die Bewegungen des Eis zu intervenieren, und kann so eine gewisse Kontrolle über sie und damit über die sich herausbildende Zeichnung gewinnen. Manchmal greift er mit der Hand in die entstehenden Linien ein und schafft durch Kratzen auf dem Papier Flecken, als wolle er die Klarheit der Linie abschwächen und einen manuellen Eingriff in eine teilweise mechanische Technik vornehmen. Die gelegentliche Verwendung der Eisubstanz (It Becomes Clear Once It’s Loved) erweitert die verfügbaren materiellen Ressourcen.
Michael Günzburger beschäftigt sich mit dem Ei auf eine weitere Art, indem er es weder als Motiv noch als Werkzeug, sondern als Material benutzt. In einer Serie von Monotypien – einer Technik, die mit der Druckgrafik verwandt ist, da die Entfernung der Farbmaterie von einer Platte entscheidend zur Entstehung des Bildes beiträgt – lässt er sich überraschen von den Effekten und Farbspielen, wenn ein auf den Druckträger gelegtes Ei die lithografische Presse durchläuft. Das Eifett dient dazu, die ebenfalls fette Tuschfarbe zu leiten. Für diese Serie arbeitete er erneut mit dem Zürcher Drucker Thomi Wolfensberger zusammen. Den ersten Versuchen ging eine intensive Beschäftigung mit dem organischen Material und dessen physikalischen und chemischen Reaktionen voraus, so zum Beispiel bei der Anfertigung eines zu druckenden Cocktails (Chimaira, 2021): Von Versuch zu Versuch analysiert Michael Günzburger die Auswirkungen jeder Veränderung auf das Resultat (zum Beispiel die Zugabe von Salz, das ein ausgespartes Netz kleiner Punkte erzeugt, oder Sonnenblumenöl, das die Farbe aktiviert) und lernt diese Effekte zu beherrschen. Wenn er schliesslich feststellt, dass die Variationen hinsichtlich des Verhaltens des Eis begrenzt sind, zögert er nicht, das Spektrum der Möglichkeiten auszuloten: Überlagerung von Farbschichten (Add Black Glue to One Side of the Desired, und Dig Through the Leftovers Until It Vanishes), aufeinanderfolgende Abzüge vom Druckträger (Replicate the Coincidences Three Times), Markierungen mit einer Farbwalze (Candidly Remain Silent and Watch), Zeichnung mittels eines Eis, das Pigment vom Druckträger löst und Aussparungen auf dem Blatt erscheinen lässt (A Late Turn Will Help It Break Through), Verwendung von Objekten aus der Vogelwelt wie Federn (You Do Understand While It Sings), ein zerknülltes Blatt, dessen Falten eine Markierung hinterlassen (An Unwritten Line Indicates Another Rising Fold), und abschliessende manuelle Eingriffe wie Kratzen (Decipher Every Trace of Salt You’ve Found).
(Text: Laurence Schmidlin, In: Now Let It Unfold, Ausstellungskatalog Galerie Haas, 2022, S. 17)